Tempolimit

Tempolimit 120 | Ergebnis einer Klausurtagung

Aufgrund einer doch leichten bis starken Abnahme der Beliebtheit der Ampelkoalition sahen sich die führenden Köpfe der Koalition in der Notwendigkeit, eine informelle Sitzung auf Schloss Gymnich einzuberufen.

Unter den Anwesenden befanden sich Finanzminister Christian Lindner (FDP), auch bekannt als "Chrissi", Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), liebevoll als "Robbi" bezeichnet, sowie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), gerne als "Scholzomat" tituliert.

Der Zweck dieses diskreten Treffens bestand darin, einen strategischen Maßnahmenplan zu erarbeiten, um die Umfragewerte der drei koalierenden Parteien wieder über die der AfD zu heben.

Im Vorfeld der umfassenden Klausurtagung von geplanten achtzehn Wochen wurde entschieden, den Fokus auf einen Plan mit nur einem einzigen Schwerpunkt zu legen. Alles andere wurde als zu zeitintensiv erachtet und hätte die Entwicklung des Plans vermutlich über die Länge einer Legislaturperiode hinausgezogen.

Nach den ersten fünf Wochen eines intensiven Ideenaustauschs, Diskussionen und kreativen Brainstormings präsentierten die Herren ihre Zwischenergebnisse auf einer völlig überdimensionierten Moderationstafel. Hierbei wurden eine rote und eine grüne Moderationskarte sowie ein Smartphone an die Wand gepinnt.

Das Telefon gehörte Chrissi, der die Wichtigkeit betonte, dass besonders die Führung der Bundesrepublik Deutschland beim Thema Digitalisierung mit gutem Beispiel vorangehen sollte. Leider hielt die Stecknadel das Telefon nur kurz an der Wand, sodass es der Schwerkraft nachgab und auf dem bohnergewachsten Parkett von Schloss Gymnich zerschellte.

Die Handykarambolage reduzierte den Arbeitsaufwand der folgenden Wochen enorm, weil Chrissi sich nicht mehr daran erinnern konnte, welchen Begriff er denn in sein Handy eingetippt hatte und somit nur noch die beiden verbleibenden Karten nach Themen geclustert werden mussten.

Diese unerwartete Beschleunigung im Arbeitsfortschritt war im Grunde dem Fernsehkoch Tim Mälzer zu verdanken, der die drei Herren auf Schloss Gymnich beköstigte, aber dem so langsam die Ideen für neue Rezepte für diesen erlesenen Kreis ausgingen.

An dem denkwürdigen Tag des Durchbruchs in der Arbeitsgruppe hatte er nicht genug eingekauft und fand nur noch eine rote, eine gelbe und eine grüne Paprika in der ansonsten leeren Speisekammer. Für die drei Politiker kreierte er daraus einen Salat mit dem denkwürdigen Namen "Paprikakoalition".

Die Symbolik des servierten Salats war den Herren sofort bewusst. Unter der Moderation von Robbi einigte man sich morgens um vier Uhr darauf, dass sie trotz oder gerade wegen ihrer individuellen Parteifarben insgesamt einen gemeinsamen Salat aus einer Schüssel anbieten könnten. Das Wort „Salat“ stehe hier natürlich nur symbolisch für das aktuelle Vorhaben, die AfD wieder zu überflügeln. Dann nahmen sich alle an die Hand, Robbi sprach „Piep, piep, piep. Wir haben uns alle lieb“ und die drei Politiker versprachen sich gegenseitig, endlich mal aus dem Quark zu kommen mit dem zu erarbeitenden Maßnahmenplan.

Da das Gemüse „Paprika“ ja mit so positiven Attributen wie „feurig“ und „voller Energie“ konnotiert sei, schlug Chrissi spontan vor, den Begriff "Ampelkoalition" durch "Paprikakoalition" zu ersetzen, was jedoch von Robbi und Scholzomat abgelehnt wurde, da es nichts mit dem eigentlichen Thema der Klausurtagung zu tun hatte und die Zeit mittlerweile auf fünf Uhr morgens vorgerückt war.

Für die anstehenden Interviews in den morgendlichen Nachrichtensendungen wie dem "Morgenmagazin (ZDF)", "Guten Morgen Deutschland (RTL)" und dem "SAT.1-Frühstücksfernsehen (SAT.1)" mussten sich alle noch ein wenig frisch machen und vorher in einem traditionellen, zum morgendlichen Ritual gewordenen "Schnick-Schnack-Schnuck-Spiel" – auch bekannt als "Schere-Stein-Papier-Spiel" – eine Entscheidung treffen, wer in welcher der Fernsehsendungen auftreten würde.

Eines der täglichen Fernsehinterviews mit Scholzomat blieb dabei in besonderer Erinnerung. Der diensthabende Fernsehredakteur ließ sich zum Abschluss des Liveauftrittes des Bundeskanzlers zu einer leicht ironischen Bemerkung hinreißen, als er sich mit den Worten bedankte, dass der Herr Bundeskanzler dann ja jetzt über alles – also quasi nichts – aber dann doch sehr ausführlich informiert habe.

Nach den morgendlichen Fernsehauftritten und anschließendem Aperitif starteten traditionell die privaten Freizeitaktivitäten der drei Politiker in getrennten Räumlichkeiten von Schloss Gymnich. Robbi schrieb ein paar neue Zeilen an seinem neuen Roman „Ein Hauch von Salz: Gestrandet auf der Hallig“, Chrissi googelte nach aerodynamischen Optimierungen für seinen Porsche und Scholzomat schlief vor dem Bildschirm ein bei einem Onlineseminar mit dem Titel „Leuchtfeuer deines Selbst: Entdecke und entfessele dein volles Potential.“

Manchmal ließen sich die Drei tagsüber für die Tätigkeit des Regierens zum Bundestag bringen, alternativ mit dem E-Lastenrad, dem Porsche oder dem Hubschrauber – je nach Parteizugehörigkeit, ihrer politischen Funktion oder Anwesenheit von Medienvertretern. Beliebt bei den Dreien waren vor allem die etwas monotonen und ruhigeren Phasen im Bundestag mit unaufgeregten Themen für die AfD, weil es ihnen dann möglich war, bei weniger Wortgetöse, mit meistens offenen Augen ein wenig zu schlafen und den Stress der Klausurtagung hinter sich zu lassen.

Abends, meistens nicht vor 22 Uhr begannen wieder die Arbeiten in der Abgeschiedenheit von Schloss Gymnich. Man hätte von der Tageszeit auch eher beginnen können, aber die Drei aus dem Bundestag waren sich unabgesprochen darüber einig, dass es medienwirksamer sei, wenn ihre Namen im Zusammenhang von langen Nachtsitzungen erwähnt werden.

Nach dem letzten Durchbruch im Arbeitsfortschritt, der Sammlung einer grünen und einer roten Moderationskarte an der Moderationstafel begann das Clustern nach Themen. Das gestaltete sich ausnahmsweise sehr einfach und war bereits nach einer Woche beendet, weil auf beiden Karten das gleiche Thema stand: „Tempolimit 120“.

Chrissi, der ja keine Karte zum Arbeitsfortschritt beigesteuert hatte, sondern stattdessen sein Handy auf dem Parkett von Schloss Gymnich zerschellen ließ, bat anlässlich des nun festgelegten Themas um eine kurze Unterbrechung der Sitzung, da er eben zu seinem Porsche müsse, um das Fahrzeug sanft zu streicheln und darauf vorzubereiten, dass potentiell Einschränkungen des Geschwindigkeitspotentials durch ein zukünftiges „Tempolimit 120“ drohten. Chrissi versprach aber seinem Porsche, dem er den Kosenamen „Porschi“ gegeben hatte, mit aller Kraft und vollem Engagement das 120er-Gesetz zu verhindern.

Nach der Vereinbarung auf das entscheidende Kernthema „Tempolimit 120“ und einem darauf fußendem Maßnahmenbündel zu dieser Geschwindigkeitsregelung, schlossen sich die letzten zwölf Wochen voller langer Arbeitssitzungen der Koalitionsspitzen an. Diese intensive Phase war begleitet von Animositäten, Beleidigungen, Beleidigtsein, Klarstellungen, Gegendarstellungen und wurde gerne und oft in den abendlichen Nachrichtensendungen ausgebreitet.

Zwölf Wochen waren tatsächlich notwendig, um allen Beteiligten die Gelegenheit zu geben, ihre parteiinternen Aspekte und Überlegungen, aber vor allem auch ihre persönlichen Interessen in einem gemeinsamen Drei-Punkte-Papier unterzubringen. Durch die Arbeit des Recherchenetzwerkes Correctiv gelangte der letzte abgestimmte Entwurf des Dokumentes an die Öffentlichkeit, die teils mit Verwunderung, aber auch mit Verärgerung und Androhung von Straßensperren durch Fahrzeugblockaden mit Autos der Marken Porsche, Tesla und Trabant den Inhalt des Papiers zur Kenntnis nahm:

  • Ziel:
    • Die „Paprikakoalition“ ist gewillt, „Tempolimit 120“ sozialverträglich, umweltschonend und wirtschaftsfreundlich für den Standort Deutschland umzusetzen. Das „Tempolimit 120“ wird auf allen Straßen der Bundesrepublik Deutschland eingeführt, sofern es zum jetzigen Zeitpunkt dort möglich ist unter Beachtung der Regeln der Straßenverkehrsordnung (StVO) eine Geschwindigkeit von mehr als 120 km/h zu erreichen. Zur Erreichung von wirtschaftlichen, umweltschonenden und sozialverträglichen Zielen sind Maßnahmen definiert, die sich aus den folgenden drei Punkten ergeben.
  • Punkt 1: das Gebot der maximalen Ausnutzung des Fahrbahnbereichspotentials
    • Auf Straßen, bei denen jetzt schon die Geschwindigkeit auf 120 km/h oder mehr beschränkt ist, wird die Regelung dahingehend erweitert, dass bei mehrspurigen Straßen für die erste weitere Spur eine Ausweitung des Geschwindigkeitslimits um 50% und für jede weitere Spur um 75% definiert wird.
    • Der Idee dieser kreativen Regelung liegt zugrunde, dass es unwahrscheinlich ist, dass parallel auf mehreren Spuren verschiedene Verkehrsteilnehmer nebeneinander mit Tempo 120 fahren. Damit wird z.Z. noch ein großes Potential in der Ausnutzung der Fahrbahnen verschenkt und soll hiermit gehoben werden. Ebenso wird es den Verkehrsfluss positiv beeinflussen.
    • Als Beispiel würde das für eine vierspurige Autobahn mit einer bereits existierenden Geschwindigkeitsbeschränkung auf 120 km/h bedeuten: 120 + 0,5 * 120 + 0,75 * 120 + 0,75 * 120. Bei der Berechnung ist Punktrechnung vor Strichrechnung zu beachten und würde in diesem Beispiel zu einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 240 km/h auf jeweils einer Spur führen. Eine Deckelung auf maximal 340 km/h wird festgeschrieben, da dieses die Höchstgeschwindigkeit eines für den Straßenverkehr zugelassenen Porsches ist.
  • Punkt 2: das Konzept der „Schleichzertifikate (SZ)“
    • Aufgrund von verkehrsbedingten Staus, Baustellen, innerörtlichen Straßen, etc., die eine Ausnutzung der Höchstgeschwindigkeit 120 generell oder situativ oder aufgrund von Faktoren des Verkehrsteilnehmers, die nicht ihrem oder seinem Einfluss mittelbar oder unmittelbar unterliegen, nicht zulassen, wird als marktkonformer Ausgleich der Erwerb von Schleichzertifikaten (SZ) ermöglicht.
    • Eine noch zu entwickelnde Schleichzertifikate-App (S-Zapp) ermittelt die Differenz zwischen der aktuellen, tatsächlichen Geschwindigkeit des Verkehrsteilnehmers und der Zahl 120 und errechnet daraus Schleichzertifikate (SZ), die auf einer Schleichzertifikatebörse (SZB), angesiedelt beim Bundesverkehrsministerium gehandelt werden können. Personen, die das Bedürfnis haben, mehr als 120 km/h zu fahren, können diese Zertifikate erwerben, um ihre Fahrweise gesetzeskonform und straßenverkehrsrechtlich abzusichern. Die Abstimmung mit der EU-Kommission erfolgt noch.
    • Der Idee dieser kreativen Regelung liegt zugrunde, dass damit eine optimale durchschnittliche Höchstgeschwindigkeit vom 120 km/h über alle beteiligten Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer erreicht wird und durch die Schleichzertifikate (SZ) ein marktkonformer Ausgleich geschaffen wird.
    • Solange die Schleichzertifikate-App (S-Zapp) noch nicht entwickelt ist oder es Menschen gibt, die S-Zapp auf Grund ihrer individuellen Eigenschaften, Einschränkungen oder Einstellungen nicht nutzen können oder wollen, gibt es als Ersatzlösung ein formularbasiertes Verfahren. Jede Betroffene, jeder Betroffene kann in einem Autohaus ihrer Wahl oder einem Autohaus seiner Wahl vorstellig werden und sich ihre oder seine Schleichzertifikate (SZ) anrechnen lassen. Bei dem Neukauf eines Fahrzeuges in dem Autohaus der Wahl wird ein Bonus von 100% auf die berechneten Schleichzertifikate (SZ) gewährt.
  • Punkt 3: die soziale Komponente
    • Menschen, die motorisierte Fahrzeuge nicht nutzen können oder wollen oder Fahrzeuge nutzen, die technisch bedingt nicht eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h erreichen (z.B. E-Fahrstühle, E-Scooter, E-Rollatoren oder Rollatoren mit Schiebehilfe, …) sind berechtigt, sich einen Schleichzertifikatebonus (SBO) im Rahmen ihrer jährlichen Steuererklärung berechnen zu lassen, da sie nicht über die Möglichkeit verfügen, Tempo 120 km/h gleichberechtigt zu anderen Verkehrsteilnehmern auszuschöpfen.
    • Der erworbene Schleichzertifikatebonus (SBO) kann bei der Schleichzertifikatebörse (SZB) in eine offizielle Währung der EU getauscht oder über Verkaufsportale wie ebay etc. zum Verkauf gestellt werden.

Robbi, Chrissi und Scholzomat waren zunächst erbost, dass das eigentlich unter Verschluss stehende Dokument an die Öffentlichkeit gelangte, aber am Ende des Tages überwog die Erleichterung, dass sie ihren Kompromiss nach achtzehn Wochen intensiver schweißtreibender Arbeit zum Thema „Tempolimit 120“ unter Dach und Fach hatten. Robbi und Chrissi überließen dem Bundeskanzler die Kommunikation zu den Ergebnissen der Klausurtagung in allen relevanten Frühstückssendungen. Die Bandwurmsätze des Scholzomaten erschwerten es aber vielen Menschen, das 3-Punkte-Eckpapier zum „Tempolimit 120“ intellektuell zu erschließen. 

Robbi fuhr nach dem Ende der Klausur mit dem nächsten verfügbaren Zug bzw. teilweise Schienenersatzverkehr zurück zu einer Hallig, um vor Ort noch Recherchen für seinen Roman „Ein Hauch von Salz: Gestrandet auf der Hallig“ abzuschließen.

Chrissi stieg in seinen Porsche Cabrio, klappte das Verdeck nach hinten, berechnete seine mögliche Höchstgeschwindigkeit für die maximale Ausschöpfung des Fahrbahnbereichspotentials gemäß 3-Punkte-Eckpapier auf seinem neuen Handy, verließ die Auffahrt zum Schloss Gymnich mit dem röhrenden Geräusch des aufheulenden Motors, bog in Köln auf die A2 ab und konnte endlich mal so richtig Gummi geben …

Und der Scholzomat? Er begab sich nach Beendigung seiner Fernsehauftritte auf den Weg nach Potsdam, um endlich wieder seine Ehefrau Britta in die Arme zu schließen, die ihm sein Lieblingsgericht gekocht hatte: „Pfälzer Saumagen“.

Anmerkung: Bei den nachfolgenden Landtagswahlen hatte das Konzept „Tempolimit 120“ offenbar keinen Einfluss auf den weiteren Höhenflug der AfD und das Abrutschen der Ergebnisse der Ampelkoalition. Über die Gründe mag spekuliert werden.