Sau

Die feige Sau kotzt

Es sind die 80-er Jahre. Mit ihrer Musik, für die wir sterben. Oder fast. Wir wollen heute die Nacht durchmachen. Bis um fünf.

Euleticket

Wenn in der "Eule", unserer Samstagabenddisko die letzten leeren Gläser eingesammelt werden. Wenn vereinzelt späte Menschen sich ineinander verhaken. Wenn sich nur noch ein paar abgedrehte Typen auf der viel zu kleinen Tanzfläche zu immer langweiligerer Musik wie in Trance bewegen. Wenn dann endlich vor der Tür der Disko die frische Morgenluft in die Lungen strömt. Wenn im Sommer manchmal schon die ersten Vögel zwitschern.

Martin kommt wohl heute Abend nicht mehr. Eine halbe Stunde nach der verabredeten Uhrzeit ist mit ihm nicht mehr zu rechnen. Er ist immer zu spät. Martin ist eben ein lockerer Typ. Deswegen habe ich mich auch heute Abend wieder mit ihm vor der "Eule“ verabredet. Er kann gut Erstkontakte zu Frauen aufbauen. Da kann ich manchmal von profitieren.

Ich stehe vor der "Eule ". Bin unschlüssig. Die Eingangstür öffnet sich mittlerweile im Fünf-Minuten-Takt. Pendelt sich dann zu hinter Typen, die in der Kellerdisco verschwinden. Irgendwann bei geöffneter Tür Fragmente des Songs „Relax“ von „Frankie goes to Hollywood“ von unten zu hören. Es kribbelt in meinen Füßen. Gut tanzbar wäre das. Wäre auch gut für meinen Kopf, um den Frust der Woche rauszuhauen. Aber alleine muss ich da jetzt nicht runter. Zu dieser Zeit tanzt auch noch keiner. Es ist noch zu früh. Abhängen, Palavern, Qualmen, Trinken ist jetzt erst angesagt. Eng an eng stehend blockieren Menschen die kleine Tanzfläche. Eine silberfarben-matt-schimmernde Metallplatte. Erst rutschig durch verschüttetes Bier, später zusätzlich durch verlorenen Schweiß. Der Spiegel über die gesamte Rückwand schafft eine Illusion von großem Raum in der kleinen Kellerdisko.

Ich stehe vor der "Eule". Bin unschlüssig. Ein Typ tritt aus der Disko heraus auf den Gehweg. Eigentlich eher ungewöhnlich, dass zu so früher Zeit schon jemand die Kellerdisko wieder verlässt. Sein Gesichtsausdruck hat etwas von Genervtheit oder Gereiztheit. Zumindest meine Interpretation. Aus seiner linken Parkatasche kramt er hektisch ein Päckchen Tabak hervor. Reißt hastig den Klebeverschluss auf. Fummelt sich losen Tabak und ein dünnes Blättchen aus dem Tabakpäckchen. Mit drei Fingern der rechten Hand dreht er sich mit diesen Zutaten eine Zigarette. Die linke Hand inzwischen mit dem Tabakpäckchen wieder lässig in der Parkatasche abgelegt. Gute Feinmotorik. Könnte ich nicht. Aber warum sollte ich auch. Ich hasse  Rauchen. Der Typ setzt an zum Finale des Zigarettendrehens. Speichelt das Blättchen ein. Sein Blick trifft mich dabei. Kalt. Durchdringend.

"Was glotzt du so blöd?" fragt er.

Könnte jetzt was erzählen von toller Feinmotorik oder so. Lasse es lieber. Reagiere nicht auf seine Frage.

"Soll ich dir die Fresse polieren?" schiebt er hinterher.

Ich erleide einen Flashback. Soweit ich das mit meinen amateurhaften Psychokenntnissen beurteilen kann.

Ich sehe ein paar blutverschmierte Papiertaschentücher vor dem Eingang zum Schulhof. Damals, als H. einem katholischen Schüler der dritten Klasse drei Schneidezähne aus dem Oberkiefer schlug, weil er über den evangelischen Schulhof zur dahinter liegenden katholischen Schule lief. Nicht um das Schulgelände herum. Die drei Schneidezähne lagen im Dreck mitten auf dem matschigen Weg. Es waren wohl Milchzähne. Ich verhielt mich nach diesem Vorfall immer bewusst überfreundlich gegenüber H. Manchmal habe ich seine Schultasche getragen. Als H. die Schule wegen diesem und anderer Vorfälle verlassen musste, ging es mir wieder besser.

Der Typ vor der Disco scheint etwas angefressen zu sein. Sagt mein Kopf. Mein Pulsschlag schießt schlagartig hoch nach seiner letzten doch sehr konkreten Frage. Adrenalin flutet den Körper. Der Bauch sagt: nur noch schnell weg hier. Und zwar sofort. Ohne auf den Verkehr zu achten überquere ich rennend die Straße vor der Disko. Biege in die nächste rechts ein. Hinter mir das Fußgetrampel des Verfolgers. Er könnte doch jetzt ein Feuerzeug in seinen Taschen suchen, um sich seine frisch gedrehte Zigarette anzuzünden. Das wäre gut für mich. Was für verzweifelte Gedanken in meinem Kopf. Ich würde Vorsprung gewinnen.

Der Abstand wird auch so größer zwischen uns.

„Bleib stehen du feige Sau." höre ich ihn rufen.

Die Beleidigung trifft mich nicht wirklich. Sie spornt mich eher an, alle Kräfte darauf zu fokussieren, noch schneller zu werden. So schnell bin ich noch nie gerannt. Nicht mal damals, bei den Bundesjugendspielen. Kurz vor dem Ende des eingeschlagenen Weges mache ich einen Haken in die Sparkassenarkaden. Nach ein paar Metern weiß ich: das war eine Scheißidee. Meine Flucht endet vor einem eisernen massiven Rollgitter, das anscheinend nachts vor dem Arkadeneingang runtergelassen wird. Ich warte darauf, dass der Typ jeden Moment meinen Kopf gegen das Rollgitter schlägt. Mir drei Schneidezähne rausfallen. Die keine Milchzähne sind. Und dann hinter das Rollgitter auf den Marmorboden klirren. Unerreichbar, sodass ich sie noch nicht mal wieder einsammeln könnte.

Das Fußgetrampel hinter mir wird kurz laut und dann wieder leiser. Der Typ hat sich vielleicht doch mehr um seine Zigarette gekümmert. Dürfte aber unwahrscheinlich sein. Egal. Hat jedenfalls nicht bemerkt, dass ich einen Haken in die Sparkassenarkaden geschlagen habe.

Der rasende Pulsschlag zersprengt gleich meinen Kopf. Ich ringe nach Luft. Bräuchte mehr davon. Mir wird übel. Ich kann es nicht mehr aufhalten. Eine rote Brühe mit weißen Einlagerungen spritzt in einem kraftvollen Schwall durch das Rollgitter. Am Ende auf den Marmorboden.

Erinnere mich, heute Mittag Spaghetti Bolognese gegessen zu haben. Im Rollgitter sind einige grobe Spaghettiabschnitte hängengeblieben. Sollte meine Nahrung gründlicher zerkauen.

Überlege, ob ich morgen zurückkommen soll, um die Kotze aufzuwischen. Doch ein Teil der Kotze liegt hinter dem Rollgitter. Auf dem Marmorboden. Unerreichbar auf der anderen Seite. Lasse einfach alles liegen. Werfe eine 5-DM-Münze hinter das Rollgitter als Entschädigung für denjenigen, der die Scheiße wegmachen muss. War eigentlich als Eintritt für die „Eule“ vorgesehen. Die Münze rollt außerhalb meines Sichtfeldes. Merkwürdigerweise hoppelt sie über den völlig glatten Marmorboden. Fällt mit einem entfernten, leisen Scheppern um.

Zur "Eule" gehe ich heute Abend nicht mehr zurück. Ich würde nach Kotze riechen. Obwohl es bei dem Mief aus Achselschweiß, verschüttetem Bier und Zigarettenqualm in der Kellerdisko wahrscheinlich keiner bemerken würde.

Wohl nicht so gut gelaufen der Abend. 

Sollte einfach lockerer sein.

Auch ohne Martin.