Oma Müller

Hebelgesetz | Praxiseinsatz beim Aufrichten von Oma Müller

Sonntagsausflüge zu Tante Müller waren der Inbegriff der Qual. Die Fahrten zu ihr fühlten sich an wie das Schlingern eines Piratenschiffs in stürmischer See. Nur, dass unser "Schiff" lediglich ein schwarzer Mercedes 200 war. Der Wagen, viel zu weich gefedert, hüpfte durch die engen Kurven des Teutoburger Waldes. Dazu mischte sich im Auto eine exquisite Duftkomposition aus Benzin, kaltem Zigarettenrauch und den chemischen Ausdünstungen der glatten Kunstledersitze.

Mit diesem Auto durch den Teutoburger Wald? Jedes Mal ein Höllentrip, der meinen Magen zuverlässig in Aufruhr versetzte.

Meine Rettung? Ein Stapel Brötchentüten, den mir meine Stiefmutter vor der Fahrt vorausschauend überreichte. Kotztechnisch bestens ausgestattet, um im Falle eines Falles keine halb verdauten Überbleibsel im Auto zu verstreuen.

Und dann erst die Sommerausflüge! Aus der kurzen Lederhose schauten meine nackten Oberschenkel heraus, die sich vollflächig mit dem Kunstleder der Sitze vereinten. Meine Stiefmutter musste mich regelmäßig aus dieser Verklebung retten, zerrte mich aus dem Auto, manchmal ein paar Hautfetzen meiner nackten Beine auf dem Sitz zurücklassend. Zumindest fühlte es sich so an.

Das Ankommen bei Tante Müller und ihr feuchtes Begrüßungsritual mitten auf meinen Mund waren der Auftakt zu einer surrealen Show. Mein Magen noch in Aufruhr, wurden wir direkt an den Tisch verfrachtet. Ich immer gegenüber von Oma Müller, als hätte ich den Hauptpreis für den ungünstigsten Platz gewonnen. Oma Müller, eingehüllt in ein düsteres schwarzes Kleid mit weißem Kragen, sprach nie ein Wort und starrte konzentriert geradeaus. Ihre Blickrichtung? Irgendwo hinter mir, als gäbe es dort eine unsichtbare Kinoleinwand.

Und dann die Showeinlage: Oma Müller kippte regelmäßig mit ihrer rechten Körperseite auf das schwarze Sofa. Meistens ließ man sie so liegen, als wäre sie Teil einer modernen Kunstinstallation. Das Aufrichten zu Beginn der Mahlzeiten war eine Zirkusnummer, die Tante Müller und Stiefmutter beherrschten wie zwei Clowns im Zirkus. Eine zog, die andere drückte. Und Oma Müller stöhnte im Takt dazu.

Das Essen: Rouladen, Jägerschnitzel, Knödel, Spargel, Rotkohl, Königsgemüse – ein Essensangebot, das mein Magen und ich schon aus ethischen Gründen ablehnten.

Der krönende Abschluss: Götterspeise, die wie ein Flummi vom Teller sprang und nur mit einer Flut von Vanillesauce genießbar war.

Das Sahnehäubchen? Oma Müller, vollgesabbert, mit halb verdautem Essen dekoriert, direkt in meinem Blickfeld.

Nach dem Essen begann das große Reinemachen. Oma Müller wurde von Essensresten befreit, die man großzügig mit ihrer bekleckerten Stoffserviette auf ihrem Kleid verteilte. Stiefmutter und Tante Müller verschwanden mit dem schmutzigen Geschirr in der Küche, wahrscheinlich um dort über die Rettung der Welt zu debattieren, ohne mich daran teilhaben zu wollen.

Meine Aufgabe? Auf Oma Müller aufzupassen. Eigentlich nicht viel zu tun außer zu warten, bis sie wieder wie ein betrunkenes Dackelchen auf die rechte Seite kippte. Mit einem erleichterten Seufzen, das klang, als wären gerade mehrere Säcke Kartoffeln von ihren Schultern genommen worden. Dann starrte sie, diesmal um 90 Grad gekippt, unter dem Tisch her – dort gab es eigentlich auch nichts zu sehen außer meinen endlos langen Beinen, die aus meiner Lederhose ragten.

An einem dieser skurrilen Sonntage, ausgefüllt mit Kotzerei, sabbernder Stille von Oma Müller, widerlichem Sonntagsbraten und den endlos lange murmelnden Frauen, kam mir ein Geistesblitz. Erinnerungen an eine Physikstunde mit Lehrer Mümmelmann (ja, wirklich sein Spitzname!) kehrten zurück, der uns mal das Hebelgesetz erklärte. Die alten Ägypter bauten Pyramiden mit diesem physikalischen Prinzip – aber hier? Zwei Frauen, die sich jedes Mal abrackerten, um die umgefallene Oma Müller wieder aufzurichten? Das ging bestimmt auch anders.

Also stellte ich mich am Kopfende von Oma Müller auf das Sofa und zog ihren Arm schräg zu mir hoch. Mit mehr Kraftaufwand als erwartet und einem unüberhörbaren  Knacken in ihrer Schulter schaffte ich es, diese menschliche Masse aufzurichten. Sie seufzte. Ich schenkte ihr ein zufriedenes Grinsen, hoffend, dass das Knacken in der Schulter nicht der Bruch eines wichtigen Knochens gewesen war.

Toll, diese Sache mit dem Hebelgesetz.

Zurück am Tisch, gegenüber von Oma Müller ein vollkommen neues Bild: Oma Müller starrte nicht die Wand hinter mir an, sondern direkt in mein Gesicht. Sagte aber trotzdem nichts. Und sie blieb länger als die üblichen 10 Minuten aufrecht sitzen, als hätte ich ihr ein Wundermittel verabreicht.

Tante Müller und Stiefmutter traten nach gefühlten zwei Stunden zurück ins Wohnzimmer – verwundert darüber, dass Oma Müller nicht wie üblich auf dem Sofa lag.

"Warum sitzt Oma und liegt nicht auf dem Sofa?", fragte Tante Müller irritiert.

"Ich habe das Hebelgesetz angewendet.", antwortete ich stolz, verschwieg aber das Knacken der Knochen.

Stiefmutter spottete: "Ach ja, der Herr Professor zeigt uns mal wieder seine Gymnasialkünste. Hat tatsächlich mal was fürs Leben gelernt!"

Ja, so war sie eben. Hätte mich lieber auf der Realschule gesehen. Mit einer anschließenden handwerklichen Ausbildung als Rüstzeug für das Leben. Schade auch.

Epilog:
Beim Aufschreiben dieses Textes ca. 50 Jahre nach den beschriebenen Ereignissen stellt sich mir die Frage, ob es nicht sein kann, dass die Oma aus reiner Schutzhaltung immer auf ihre rechte Körperseite und nie auf die linke Seite gefallen ist und ob ich durch das Zerren an ihrem linken Arm in ihrem knackenden Schultergelenk irgendwas ausgelöst habe, dass sie endlich längere Zeit sitzen konnte. Es wäre wichtig für mich zu wissen, ob ich ihr nicht Schmerzen oder gebrochene Knochen hinterlassen habe. Dass ich endlich diese Gewissensbisse überwinde. Ich bin kein Mediziner, sondern nur ehemaliger Informatiker und frage daher die Künstliche Intelligenz:

 Frage an ChatGPT:

„Kann es sein, dass man nach einem Ziehen am Arm und Knacken im Schultergelenk eine Erleichterung spürt?“

 Antwort von ChatGPT:

„Ja, es kann tatsächlich sein, dass nach einem Ziehen am Arm Schmerzen und Knacken im Schultergelenk nachlassen und man eine Erleichterung spürt. Es gibt mehrere mögliche Gründe dafür:

 

  1. **Einrenken von Gelenken**: Manchmal kann ein leicht aus dem Gelenk gerutschtes Schultergelenk oder ein kleiner Gelenkblock durch das Ziehen am Arm wieder in die richtige Position gebracht werden. Das Einrenken kann sofortige Erleichterung und Reduktion des Knackens bewirken. 
  1. **Lösen von Verklebungen und Verspannungen**: Das Ziehen am Arm kann helfen, Verklebungen oder Verspannungen in den Muskeln, Sehnen und Bändern rund um das Schultergelenk zu lösen. Dies kann die Beweglichkeit verbessern und Schmerzen sowie Knacken reduzieren. 
  1. **Nervenentlastung**: Wenn ein Nerv eingeklemmt oder gereizt war, kann das Ziehen am Arm den Nerv entlasten, was zu einer sofortigen Linderung der Schmerzen führen kann. 
  1. **Durchblutungsverbesserung**: Das Ziehen kann die Durchblutung im Schulterbereich fördern, was die Versorgung der betroffenen Gewebe mit Sauerstoff und Nährstoffen verbessert und die Schmerzwahrnehmung verringern kann. 
  1. **Muskelentspannung**: Ein kontrolliertes Ziehen am Arm kann die Muskulatur um die Schulter entspannen, was wiederum Schmerzen und Knacken reduzieren kann.

 Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass solche Manipulationen auch Risiken bergen können, insbesondere wenn sie unsachgemäß durchgeführt werden. Wiederholtes oder unsachgemäßes Ziehen am Arm kann zu Verletzungen führen oder bestehende Probleme verschlimmern. Wenn du wiederkehrende oder anhaltende Probleme mit der Schulter hast, ist es ratsam, einen Arzt oder Physiotherapeuten aufzusuchen, um eine genaue Diagnose und geeignete Behandlung zu erhalten.“

 Meine Erkenntnis:

Ich lass das mal so stehen. Anscheinend habe ich nicht nur gehebelt, sondern dadurch auch noch Schmerzen gelindert ...

Zeitzeugengespräch

Christian Pfeil | als sein Lied verstimmte

Wenn man in einem Konzentrationslager geboren wird, lässt es sich oft nicht mehr nachvollziehen, wann der genaue Geburtstag war. Christian Pfeil wurde daher Jahre später ein Tag im Januar 1944 zugeteilt.
Wenn man die Grausamkeiten eines Konzentrationslagers überlebt, "ist das ein Wunder", wie Christian Pfeil in seinem Zeitzeugengespräch am 22.04.2024 in Münster sagte. Vielleicht ist es aber auch seinem Vater geschuldet, der als Musiker auf den Festen der SS-Offiziere nahe dem Lager spielen musste "bis seine Finger wund und blutig" waren und er dafür Lebensmittel bekam, womit er seine Familie auf minimalstem Niveau versorgen konnte. 
Wenn man viele Jahre später nach dem Ende des 2. Weltkrieges mit einem Lied versucht, das Ganze zu verarbeiten, in einem Lied, das den Titel trägt "Nie wieder Großdeutschland, heil Hitler" und Neonazis deswegen zweimal die Existenz von Christian Pfeil vernichten, dann hat das Lied offensichtlich verstimmt.
Nun ist es auch verstummt.
Aber nicht Christian Pfeil. 

Christian Pfeil Ankündigung

Christian Pfeil (81 Jahre) singt sein Lied nicht mehr. Der Schmerz und die Angst sitzen zu tief. Aber Christian Pfeil selber ist nicht verstummt. Er sieht seine Aufgabe darin, über sein Leben zu berichten und davor zu warnen, dass "es nochmal passiert".
Sein Neffe begleitet ihn bei seinen Zeitzeugengesprächen inner- und außerhalb Deutschlands. In der Pause konnte ich mich länger mit ihm unterhalten. Er erwähnte, dass sein Onkel letztes Jahr vor der UNO eine Rede halten durfte, und er sich darauf freut, bald die Ehrenbürgerwürde der Stadt Trier zu erhalten, der Stadt, aus der seine Familie in das Konzentrationslager deportiert wurde, der Stadt, in der die Familie nach dem Krieg zurückkehrte und weiterhin Diskriminierung erfahren hat, der Stadt, in der Neonazis zweimal seine Restaurants verwüsteten ...  

Ein Bericht über den beeindruckenden Menschen Christian Pfeil ist in der ARD-Mediathek aufrufbar: "Trotz allem".  Ab Minute 28 geht es um sein Lied ... 

Ein Zitat von Christian Pfeil, das mich nachdenklich gemacht hat: "Sagen Sie, was nicht richtig ist, sonst machen Sie sich demnächst ein Leben lang Vorwürfe ..." 

 

Pfefferminze

Patchouli | mehr als ein Parfüm

Der Umzug aus Rüdigers Reihenhaus in die Seniorenresidenz „60-plus-club“ war für August vorgesehen. Rüdiger war froh, dass seine Tochter Lena das Haus mit dem ganzen Inventar übernehmen würde. Bis auf diesen einen Karton im Keller.

Das fiel Rüdiger irgendwann kurz nach einem Mittagsschlaf siedend heiß ein. Dass er diesen Karton sicherstellen müsste. Er staunte, dass ihm dieser Karton überhaupt noch einfiel – und dann ausgerechnet jetzt: wie ein Geistesblitz nach einem Mittagsschlaf. Aber manchmal hatte er eben auch seine guten Tage.

Im Abstellkeller räumte sich Rüdiger den Weg frei bis zu der Ecke, wo er ein paar Archivkartons mit „alten und wichtigen“ Unterlagen aufbewahrte. Er schob verstaubte Reisekoffer und alte Plastiksäcke beiseite, um an die Kartons zu gelangen. Als Rüdiger den mit „privat“ beschrifteten Karton öffnete, schlug ihm der muffige Geruch vieler vergessener Jahre entgegen.

Zwei dicke Leitz-Ordner mit handgeschriebenen Briefen blätterte er oberflächlich durch. Katja, Horst, Annette – an die meisten Namen und die Menschen erinnerte er sich nicht mehr. Obwohl er vor 50 Jahren anscheinend in intensivem Briefkontakt mit ihnen stand. Neben den Ordnern lagen dünne Schreibhefte, wie aus Schulzeiten. Sie enthielten Tagebucheinträge – Reisen, Begegnungen, Orte, alles fein säuberlich datiert. Auf manchen Seiten klebten Erinnerungsstücke: Fahrkarten, Zeitungsausschnitte, Restaurantrechnungen, Streckenpläne, Bleistiftskizzen.

Es nervte ihn, dass sein Kopf ihn immer öfter im Stich ließ. Nicht nur die weit zurückliegenden Ereignisse entglitten ihm, sondern auch einfachste Dinge des Alltags. Nach dem Kochen kehrte er oft mehrfach in die Küche zurück, um zu überprüfen, ob der Elektroherd wirklich ausgeschaltet war. Er ging in den Keller und wusste unten angekommen nicht mehr, was er dort eigentlich wollte. Lena hatte ihn überzeugt, dass er im „60-plus-club“ besser aufgehoben sei. Mittlerweile glaubte er es selbst.

Marokko?

Rüdiger blätterte in einem der Hefte. Er überflog seine handgekritzelten Notizen – Orte, Begegnungen, Ankünfte, Abfahrten. Auf einer Seite klebte ein durchsichtiges Plastiktütchen, darin eingewickelt ein Papiertaschentuch. Irritiert öffnete er die Plastikfolie. Ein intensiver Geruch von Patchouli schlug ihm entgegen. Voll warmer Sonne. Dem süßen Geruch weiblicher Haut. Weit weg und doch vertraut. Es wirkte wie ein Trigger.

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Ich hatte das Ziel meiner langen Zugreise, von Deutschland nach Casablanca, erreicht. Die vergangenen Tage bewegte ich mich wie im Rausch durch das Getümmel, die Gerüche, die Geräusche dieser Stadt. Casablanca: dieser Name allein klang wie ein Versprechen. Ich ließ mich treiben. Verlief mich in der Medina mit ihrem unübersichtlichen Geflecht der kleinen Straßen, den vielen Verkaufsständen, Transportkarren, Menschen. Ich schlürfte heißen Tee. Aufgebrüht mit frischen Pfefferminzblättern. Mit viel zu viel Zucker verrührt. Ich genoss das süße Gebäck aus Mandeln, Pistazien. Mal mit Datteln vermischt. Manchmal mit Sesam überzogen. Getrocknete Feigen, frische Orangen, leuchtende Granatäpfel. Ich probierte alles, was man mir anbot.

Menschen, die sich lautstark unterhielten, in Arabisch oder Französisch. Die schimpften, lachten, wild gestikulierten. Vor der drückenden Hitze und der flirrenden Sonne Schutz suchten im Schatten der Hauseingänge. Vor sich hin dösten. Manchmal Fliegen aus ihren Gesichtern verscheuchten.

Morgen würde ich wieder den Zug Richtung Deutschland nehmen. Ich war müde. Nicht von der Menge der Eindrücke, sondern von der Vorstellung, in einer Woche wieder in einem klimatisierten Büro zu sitzen und Zahlenkolonnen auszuwerten. Ich wollte lieber dieses Staunen. Mit allen Sinnen dieses Leben aufsaugen.

Ich war müde. Lehnte mich an die Steinmauer neben einer Bushaltestelle. Es war ein schwüler Nachmittag. Die stickige Luft fast zu schwer zum Atmen. Im Minutentakt hielten Busse an. Spuckten Scharen von Menschen aus. Die mich in ihrer Hast meistens nicht bemerkten. Oder wenn doch – mich aus Augenwinkeln neugierig und flüchtig betrachteten. Die kleinen Mädchen, die meistens kichernd an mir vorbeigingen. Über den viel zu großen Mann lachten, mit bleicher Haut und viel zu langen blonden Haaren in dieser Gegend.

Dann stieg **sie** aus. Unsere Blicke trafen sich. Wir sahen uns diese paar Millisekunden zu lange in die Augen. Wir hielten beide dem Blick stand. Mit dieser Neugier auf mehr. Sie zögerte ein wenig. Kam auf mich zu.

„Parlez vous français?“

„Sprechen Sie Französisch?“

Ich bejahte, obwohl ich kaum Französisch sprechen konnte. Trotzdem unterhielten wir uns. Lachten über die entstehenden Missverständnisse. Versuchten, mit Gestik und Mimik die fehlenden Worte zu ersetzen. Schlängelten uns durch das Gewirr der vielen Menschen.

Als wir in der Boulevard Mohammed an einem Café vorbeikamen, lud ich sie zu einem Getränk ein. Wir bestellten uns beide einen mit Eiswürfeln aufgefüllten frisch gepressten Orangensaft. Der beim ersten Schluck wie schneidendes Feuer seinen Weg in meinen Magen fand.

Sie hatte dunkelbraune Augen, Sommersprossen, für dieses Land ungewöhnlich helle Haut und lange blonde Haare, die sich kaum bewegten. Wie luftiger goldengelartiger Draht ihren Kopf umhüllten. Goldringe glänzten an mehreren ihrer feingliedrigen Finger im tiefgelben Licht der Abendsonne, die durch das Fenster in das Café schien. Ihren schlanken Hals schmückten mehrere Goldketten. Manche mit meerblauen oder feuerroten Schmucksteinen dekoriert.

Wir lachten. Wir redeten über das, was einem spontan einfällt, wenn man sich das erste Mal begegnet. Mit meinen wenigen französischen Brocken. Ihrem fröhlichen französischem Singsang. Ein wenig aufgekratzt. In den kurzen Pausen zwischendurch intensiver Blickkontakt. Ein Suchen nach dem Unbekannten. Eine tiefe Sehnsucht. Eine Antwort auf nicht gestellte Fragen.

Die Abendsonne verschwand langsam aus dem Fenster des Cafés. Ich deutete an, dass es Zeit für mich wird, zur Unterkunft zurückzukehren. Ein kurzes Schweigen. Ihr tiefer, fragender Blick. Viel zu lange.

„Ich würde dich gerne küssen. Ich meine – so richtig.“ sagte sie. „Aber hier im Café? In diesem Land geht das nicht.“

Sie streifte einen der Goldringe von ihren Fingern ab. Versuchte ihn, auf meinen rechten kleinen Finger zu stecken. Reflexartig zog ich meine Hände zurück.

„Ich mache mich morgen wieder auf den Weg nach Deutschland“, entgegnete ich. Kühl, zusammenhanglos.

„Das macht nichts. Wir können uns erst mal schreiben.“ 

Sie riss zwei Zettel von einem Schreibblock ab, den sie aus ihrem genähten, grasgrün und braunrot gestreiftem, mit vielen glitzernden Steinchen geschmückten Stoffbeutel zog. Wir tauschten unsere Adressen aus.

Sie stand von ihrem Stuhl auf. Beugte sich zu mir herunter. Gab mir einen fast nicht spürbaren Wangenkuss. Ein intensiver, warmer Geruch eines mir unbekannten Parfüms umnebelte mich.
„Was ist das für ein Parfüm?“ fragte ich sie wie berauscht.

Sie suchte etwas in ihrem Umhängebeutel. Zog ein Päckchen Papiertaschentücher heraus. Entnahm alle bis auf eines der durchsichtigen Plastikverpackung. Sie kramte ein kleines braunes Fläschchen aus ihrer Tasche hervor. Öffnete den Verschluss. Träufelte ein, zwei Tropfen auf das Papiertaschentuch. Verschloss die Plastiktüte.

„Wenn du in Deutschland bist und daran riechst, wirst du dich immer an mich erinnern. Es ist Patchouli“, flüsterte sie und drückte mir das eingewickelte Papiertaschentuch in die Hand.

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Rüdiger presste das Papiertaschentuch unter seine Nase. Zog den Duft von Patchouli immer tiefer in sich hinein. Immer und immer wieder. Er erinnerte sich genauestens. Was für ein Moment.
Er blickte in das Tagebuchheft und las einen eingeklebten Zettel.

Die Adresse der Frau aus Casablanca. Amina ihr Vorname. Rue 36, no. 88, Casablanca, Marokko, der Wohnort. Von ihr, mit einer zarten, verspielten Handschrift geschrieben.

Rüdiger ging zu seinem Notebook. Rief Google-Maps auf. Gab die Adresse ein. Sie existierte. Immer noch.

Plötzlich diese Klarheit im Kopf.

Rüdiger googelte nach Flugverbindungen Richtung Casablanca.

Der „60-plus-club“ – nichts als ein schäbiger Name. Für eine Zeit, die noch warten konnte.

 

Pfefferminze

Die Pfefferminze heim bringen | die Sommer im Sperrgebiet

Lisa besuchte seit ihrem siebten Geburtstag jedes Jahr in den Sommerferien ihre Oma in Schmiedebach. Das war mit einigen Genehmigungen verbunden, da Oma im Sperrgebiet an der Grenze zur BRD wohnte.

Hunger

Hunger | in Deutschland?

Vor der Abfahrt des Zuges nach Münster war noch etwas Zeit. In einem italienischen Imbiss im Hamburger Bahnhofsviertel bestellte ich eine mit Mozzarella überbackene Pasta, eine große Apfelschorle und setzte mich draußen in die Sonne an einen der freien Tischplätze.