Die rechte Hand

Die rechte Hand von Frau M.

Die rechte Hand von Frau M. war größer als ihre linke. Das war jedenfalls mein Eindruck, wenn sie mit beiden Händen ein Buch vor sich hielt, um daraus etwas vorzulesen. 

Das müsste eigentlich so gewesen sein. Wenn man so oft wie sie mit der rechten Hand zuschlägt, muss sie doch irgendwann in die Breite gehen.

So stellte ich mir das jedenfalls bildlich vor.

Frau M. schlug oft zu. Vor allem im Fach Rechnen. Da war es ja auch eindeutig und begründbar. Mehrfach hintereinander eine falsche Antwort und sie schlug mit der rechten Hand an den Hinterkopf. Weil das das Denkvermögen erhöhe, wie sie oft sagte. Manchmal schlug sie auch nur zu, wenn sie ihren schlechten Tag hatte. So war mein Eindruck. Oder sie schlug zu, wenn man angeblich den Unterricht störte. Das Schlagen in diesen Fällen passierte aber meistens erst dann, nachdem man vorher schon mal in eine der vier Ecken des Klassenzimmers verbannt wurde. Mit dem Gesicht zur Ecke.

Frau M. war seit mehreren Wochen als Vertretungslehrerin in unserer Klasse eingesetzt. Seitdem Frau M. den Unterricht abhielt, beteiligte ich mich nicht mehr. Es war mir zu gefährlich, bei einer eventuell falschen Antwort von ihr geschlagen zu werden. Ich legte meine Antworten nur noch in meinem Kopf zurecht. Meistens lag ich damit richtig. Das war beruhigend zu wissen, dass ich im Extremfall meistens die richtige Antwort liefern würde.

So hatte ich lange Zeit Glück. Manchmal musste ich in der Ecke stehen. Was aber gut war, weil man während dieser Zeit vor ihren Schlägen sicher war. Sie hatte mich bisher noch nicht geschlagen. Aber ich rechnete täglich damit, dass es irgendwann passiert.   

Meine Mutter (*) machte mir jeden Tag das Pausenbrot fertig. Sie steckte es in die verhasste Kindergartentasche, die sie mir für den Weg zur Schule um den Hals hängte. Ich versteckte sie vor den anderen Kindern unter meiner Jacke. Auch im Sommer zog ich eine Jacke an. Ich versuchte immer möglichst früh im Klassenraum zu sein. Ich hängte dann die Kindergartentasche an der Rückseite des Klassenraumes an einen der Harken und hängte meine Jacke darüber. Wenn die Glocke die große Pause ankündigte, und alle Mitschüler nach draußen stürzten, musste ich noch einmal nach hinten in den Klassenraum, um mein Pausenbrot aus der Kindergartentasche zu holen.

Frau M. müsste es eigentlich mitbekommen haben, dass ich beim Glockenschellen zur Pause nicht direkt den Raum verließ, sondern erst mein Butterbrot aus der Kindergartentasche holte. An dem Tag war der Gang in die Pause etwas anders. Beim Glockenschellen sagte sie, dass wir uns auf dem Weg in die Pause beeilen sollten, sie keinen trödeln sehen will. Sie sagte sonst nie so etwas. Das hätte mir zu denken geben müssen.

Ich hatte gerade die Kindergartentasche geöffnet, um mein Pausenbrot rauszuholen. Da hörte ich ihre schnellen Schritte hinter mir. Ihre rechte Hand traf mich von hinten an den Nacken und um ihn herum bis vorne zur Wange. Sie musste also doch eine große Hand haben. Es schmerzte sehr. Ich wollte vor Schmerzen schreien. Aber das ließ ich dann, weil mir noch rechtzeitig auffiel, dass meine Mitschüler auch nie schrien, wenn sie geschlagen wurden. Höchstens manchmal leise schluchzten. Meistens die Mädchen.

In dieser Pause spielte ich nicht mit den anderen aus der Klasse. Ich schloss mich in der Toilette ein, was man eigentlich nicht durfte. Aber die Pausenaufsicht hatte mich nicht bemerkt. Ich weinte. Aber nicht wegen der Schmerzen.

Ein paar Tage später verfärbte sich die Haut unter meinem linken Auge. Als es meinen Eltern auffiel, fragten sie mich, woher ich das habe. Dass ich einen Fußball vor den Kopf bekommen habe, war meine Antwort. Das erschien mir sinnvoller, als den wahren Grund zu nennen. Eigentlich stimmte es ja auch. Der Schlag der rechten Hand von Frau M. fühlte sich an wie ein Volltreffer mit einem Fußball, vielleicht ein wenig härter nur.

(*) Damals war es für mich meine Mutter. Erst Jahre später erfuhr ist, dass sie aber meine Stiefmutter ist.