Hunger

Hunger | in Deutschland?

Vor der Abfahrt des Zuges nach Münster war noch etwas Zeit. In einem italienischen Imbiss im Hamburger Bahnhofsviertel bestellte ich eine mit Mozzarella überbackene Pasta, eine große Apfelschorle und setzte mich draußen in die Sonne an einen der freien Tischplätze.


Dass die Pasta bei diesem geringen Preis im Bahnhofsviertel vielleicht nicht die leckerste sein würde, war mir vorher schon bewusst. Der Hunger trieb sie mehr oder weniger rein.
So war mein Fokus ziemlich schnell nicht mehr beim Essen – das lief irgendwie nebenher. Ich tat das, was ich unterwegs oder in Wartesituationen immer gerne tat: andere Leute beobachten, mir einen (vor)schnellen Eindruck bilden, sie in eine Schublade stecken – fertig. Dieses tief verwurzelte animalische Sekundenrelikt: bist du Freund oder bist du Feind?
Einen Tisch entfernt von mir saßen drei arabisch sprechende Frauen mit Kopftuch. Ihr Essen – oder vielmehr die Reste davon - hatten sie mittlerweile auf dem Tisch von sich geschoben. Das Besteck steckte irgendwie kreuz und quer in den durchwühlten Mahlzeiten. Mit lauten Stimmen redeten sie aufeinander ein – alle gleichzeitig.  
In unmittelbarer Distanz zu den drei Frauen stand ein mittelalter Mann. Oder besser: er schlich permanent um die drei Araberinnen und ihren Tisch herum und wartete dann in kleinem Abstand von ihnen wieder. Auffällig unauffällig. Für einen kurzen Augenblick durchzuckte mich das Bild eines wilden Tieres, das seine Beute umrundet. Offensichtlich beobachtete er die drei Frauen genau oder schien auf etwas zu warten. Schwarze, gut getragene Lederjacke, dunkles gelocktes Haar, schlanker schmalwüchsiger Körper, braun gebrannte Gesichtshaut. In der einen Hand hielt er ein in einer Klarsichthülle eingestecktes Schriftstück, in der anderen Hand ein Handy, mit dem er in einer für mich unbekannten Sprache etwas zu laut mit jemanden redete. Permanent dazu mit wachen Augen dieses Beobachten der drei Frauen und das Umkreisen des Tisches während des Gesprächs am Handy.
Er vermittelte mir den Eindruck einer typischen Wichtig-Wichtig-Person. Aber warum dann dieses Umrunden der drei Frauen? Ich wusste nicht, in welche Schublade ich den Mann stecken könnte. Verunsichert hob ich meinen Rucksack von dem neben mir stehenden Stuhl und klemmte ihn zwischen meinen Beinen ein.
Eine der drei Frauen rief die Bedienung zu sich. Sie zahlten. Schwerfällig erhoben sie sich von ihren Plätzen.
Der Mann beendete abrupt sein Telefonat. Ließ sich behänd im fliegenden Wechsel mit den Frauen auf einen der drei freiwerdenden Sitzplätze fallen. Zog hastig die drei Teller mit den Essensresten zu sich heran. Die noch am Tisch stehende Bedienung ließ ihn gewähren. Brachte ihm später ein Glas Wasser. Der Mann klaubte das Besteck aus einem der durchwühlten Essen. Rieb grob die Griffe mit einer benutzten Serviette ab. Gierig schaufelte er eine Restmahlzeit nach der anderen in sich hinein. Ungefähr die Hälfte der zurückgelassenen Pasta der ersten Frau. Eine halbe Pizza der zweiten Frau. Zum Schluss die fast vollständige Pizza der dritten Frau.
Irgendwann schien er zu bemerken, dass ich ihn – ungläubig, irritiert - beobachtete. Er machte zu mir die Geste „Daumen hoch“. Dabei huschte ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.
Beschämt wendete ich meinen Blick von ihm ab. Sowas passiert in Deutschland? Ich starrte auf meine Pasta, die der Hunger reintrieb, wie es vorhin durch meinen Kopf waberte. Ich versuchte, dem tief verwurzelten Erziehungsdogma gerecht zu werden: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen“.
Diese zähe Pastapampe machte es mir leidlich schwer. Ich bestellte noch eine Apfelschorle dazu, damit sie besser durchrutschte.